Der geheime Garten & das erdige Glück

Immer öfter stelle ich fest, dass meine liebsten Geschichten aus der Kindheit und frühen Jugend nicht ohne Grund meine liebsten waren.

Eine davon ist „Der geheime Garten“ von Frances Hodgson Burnett. Mit ungefähr zehn Jahren war ich zutiefst fasziniert von dieser Geschichte, sodass ich mir das Buch sogar zu Weihnachten wünschte. Wie auch bei „Momo“ geht es darin um ein verlorenes Waisenkind, das über sich hinauswachsen muss, um Abenteuer zu bestehen und damit Gutes um sich herum bewirkt. Eine archetypische Figur, die Mut macht, gerade weil sie kein stärkendes Elternhaus oder irgendwelche Superkräfte besitzt.

Die Verwandlung der ätzenden Göre

Mary, die Heldin aus Burnett’s Geschichte, ist zu Beginn noch nicht einmal sympathisch. Sie ist sogar richtig verzogen – zynisch, egoistisch und dreist. Aus heutiger Sicht erkenne ich bereits in den ersten Zeilen, dass die arme Mary seit ihrer Geburt vernachlässigt und nie geliebt wurde. Dass sie deshalb beziehungsunfähig war und ein kaltes Herz in ihrer Brust trug.

Im Laufe des Buches beginnt dieses gefrorene Herz jedoch aufzutauen und sie mit glühender Lebensenergie – eigentlich mit purer Liebe auszufüllen. Ihre Wangen werden rosig, ihr Körper kräftig, sie schließt Freundschaften und steckt andere verlorene Seelen mit ihrer Verwandlung an, sodass diese ebenfalls beginnen, zum Leben zu erwachen.

Und wie kam es dazu?

Wie der Titel verrät, war es das Geheimnis um einen verschlossenen Garten, das den Anstoß zu alldem gab. Schaut man auf die ganze Geschichte, wird jedoch deutlich, dass es eigentlich die vielen kleine Momente waren, in denen Mary eine Beziehung zur Natur eingeht, die zusammengenommen das wahre Geheimnis erzählen.

Zum Glück gezwungen

Das Spannende ist: anfangs wollte Mary gar nicht raus gehen. Sie sah den Sinn darin nicht und sträubte sich. Es brauchte für sie erst die Anweisung von außen und später das Vorbild eines Naturburschen, um überhaupt mit der Natur in Kontakt zu kommen. Und dieser Punkt lässt mich innerlich aufhorchen, besonders seit wir vor einem Monat hier aufs Land gezogen sind.

Kein Paradies

Wo wir jetzt leben ist es in keinster Weise komplett idyllisch. Wir haben uns nicht in ein Urwald-Utopia fernab der Zivilisation zurückgezogen. Aus meinem Fenster hier sehe ich auch eine Bundesstraße, hässliche Rapsöl-Silos und große Hallen für landwirtschaftliches Gerät. Die Autos brettern viel zu schnell durch unser Minidorf, weshalb manchmal tote Katzen am Straßenrand liegen :-/.

Und dennoch öffnet sich hier etwas in mir…

…und macht Raum für eine Form von Glück, von der ich schon lange geahnt habe, dass sie mir fehlt aber bis jetzt nicht wusste, wie sehr. Dieses Glück hat nichts zu tun mit glitzernder Euphorie oder irgendeinem Kleeblatt-Klischee.
Ich will ganz ehrlich sein. Bis vor kurzem hätte mich jede Abhandlung über „das Glück“ total angekotzt.

Warum diese Glücks-Allergie?

Immer wenn mir das Thema Glück in den diversen Medien begegnete, verzog ich das Gesicht, wie wenn man einen zu großen Schluck eines ekelhaft süßen Sirups genommen hat. Bah! Hau mir ab mit dem Zeug, Herr von Hirschhausen! Ich konnte sie einfach nicht ernst nehmen, all diese verblendeten Glücksclowns, die mir den angeblichen Weg zum Glück verkaufen wollten.

Ich traute dem Braten nicht

Die Form des Glücks, die mich abstieß, hatte für mich immer etwas leicht Künstliches, Übertriebenes ohne dabei irgendeinen Gehalt zu besitzen. Zu einseitig und deshalb auch gefährlich. Ich konnte ihr nicht trauen und wollte mich vor Enttäuschung schützen. Eine zynische und bittere Lebenseinstellung kann Sicherheit geben, weil man den Fall nicht fürchten muss.

Das andere Glück

Das, was ich aber jetzt zunehmend empfinde, ist anders. Es geht tiefer, ist leiser und langsam. Es stellt sich fast automatisch ein. Ganz allmählich, wie ein Anstieg der Temperatur, den man erst gar nicht bemerkt. Es kann Tage und Wochen dauern, vermute ich – je nachdem wie intensiv man sich zuwendet und wie bewusst man auf die kleinen Veränderungen im eigenen seelischen Klima achtet.

Was lässt das andere Glück entstehen?

Manchmal merkt man erst, dass einem etwas gefehlt hat, wenn man es (wieder) hat. So ist es jetzt bei mir. Seit einem Monat lebe ich im ländlichen Raum, habe mehrere Gärten vor der Tür, beobachte, rieche und höre hin. Ich beginne, beim Pflanzen und Pflegen mitzuhelfen. Wundere mich über mein stetig wachsendes Interesse an Kräutern und deren Wirkung und auch über meine Vorfreude aufs Ernten und Konservieren – ich will das alles unbedingt lernen! Mich zieht es auf die Feldwege, weil ich den Blick in die Ferne so genieße. Gestern habe ich spontan an einem Stock aus dem Wald herum geschnitzt und war begeistert :-).

Alles alt bekannt?

Mein Gefühl sagt mir, dass es – wie bei Mary aus der Geschichte – das achtsame in und mit der Natur sein ist, das diese andere, erdige Art des Glücks entstehen lässt. Wir haben sie tausend Mal gehört und gelesen, diese scheinbare Binsenweisheit, die in jedem zweiten Apotheken-Heftchen steht: die Natur tut uns gut. Aber warum eigentlich?

Eine Beziehung, die nicht enttäuschen kann

Ich sehe es so: Die Natur wertet nicht und kann selbst nicht bewertet werden. Sie ist weder gut noch böse, schön noch hässlich. Sie ist, was sie ist und lässt folglich auch mich sein, was ich bin. Bedingungslos. Ich glaube, wenn ich mich in meiner Gänze, mit all meinen Wunden, Fehlern und angeblichen Unvollkommenheiten im Raum der Natur angenommen und zugehörig fühle, traut sich mein Herz, sich zu öffnen. Weil es sich sicher fühlt.

Auf wen kann ich mich verlassen?

Menschen haben uns enttäuscht, verletzt und vernachlässigt. Gruppen und Kulturen können ausgrenzen, diskriminieren, ignorieren und hassen. Die Natur aber ist zu all dem gar nicht in der Lage. Sie schließt alles und jeden in ihre Arme. Immer. Und ich fühle es jeden Tag mehr, dass sie deshalb wirklich der einzige Ort der wahren und unerschütterlichen Geborgenheit, mein echtes Zuhause ist.

Vertrauen als wesentliche Grundlage

Und diese Sicherheit, dieses Vertrauen vielmehr, nenne ich das andere, das erdige  Glück. Ein unbeschreibliches Gefühl. Es gibt mir Ruhe und Wärme, auch wenn gerade nicht alles einfach oder schön ist.

Und es ist erstaunlich, welche weitere Folgen es hat, wenn mein Herz sich sicher fühlt. Ich bin weniger streng mit mir und meinem Äußeren, traue mir mehr zu, mache mehr, bin sanfter mit meinen Kindern und Mitmenschen. Einige meiner „Themen“ lösen sich fast unbemerkt von alleine auf, ohne dass ich bewusst an ihnen arbeiten musste. Mir fällt es leichter, die Dinge und Umstände anzunehmen, wie sie sind. Liebe kann viel leichter fließen, nach innen wie nach außen.

Ich werde diesem Geheimnis weiter auf den Grund gehen ;-).

Quelle: Burnett, F. H.: „Der geheime Garten“, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 1996