„Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich […] Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“
Als Kind war „Momo“ von Michael Ende eines meiner Lieblings-Hörspiele. Als ich das Buch vor ein paar Jahren das erste Mal seit langer Zeit als Erwachsene las, war ich fasziniert von der Tiefe dieser Geschichte, die ich als Kind wahrscheinlich nur vage erahnen konnte. Mein Eingangszitat stammt von Momos bestem Freund, Beppo Straßenkehrer. Ich mag ihn. Ich finde, er ist eine wunderbare Mischung aus extrem weise und extrem bescheiden und zurückhaltend. Gleich am ersten Fahrtag von Köln nach Düsseldorf drangen seine Worte aus den Untiefen meines Gedächtnisses zu mir und gaben mir Trost.
Am Ziel und trotzdem noch nicht „da“
Denn wir hatten uns verschätzt mit gleich unserer ersten Etappe. In der Hektik der letzten Vorbereitungen haben wir es versäumt, uns die Strecke unseres Starttages ganz genau anzuschauen. Noch ganz euphorisiert von der herzlichen Verabschiedung von Familie und Freunden am Rheinufer, stellten wir nach eigentlich ganz unkomplizierten 35 Kilometern fest, dass unsere Übernachtungsmöglichkeit bei meiner lieben Freundin noch 15 Kilometer entfernt war, obwohl wir bereits in Düsseldorf waren. Diese 15 Kilometer wurden dann sehr lang weil Johnny auf einmal partout nicht mehr im Anhänger sitzen wollte und schrie wie am Spieß. Nix zu machen; er musste in die Trage, wir mussten schieben und kamen erst gegen 19:30 bei meiner Freundin an.
Eins nach dem Anderen
Ich glaube ich musste auf dem Rad an Beppo denken weil ich am Starttag zu allem Überfluss mit einem steifen Nacken aufgewacht war und es verdammt weh tat beim Fahren den Kopf zu heben und weiter als ein paar Meter vor sich zu schauen. Aber Beppos Message passte auch sehr gut zur Gesamtsituation; es half sehr, sich auf die jeweils nächsten (Teil-)Schritte, Kilometer und aktuellen Aufgaben zu konzentrieren, um nicht angesichts des weit entfernten Gesamtziels zu verzweifeln. Denn das kostet Energie und macht auch keinen Spaß.
Unsere Kinder spüren die ungeduldige Anspannung von uns „an die ganze Straße denkenden“ Eltern sofort und werden dadurch meist weniger kooperativ. Es ist eine hohe Kunst voll und ganz bei jedem Besenstrich zu sein aber wenn es gelingt, ist da wirklich mehr Freude und alles scheint leichter zu fluppen.
Eine Etappe im Beppo-Style
So wie letzten Dienstag. Die Etappe von Wesel nach Dorsten war bisher die schönste und stimmigste und das lag zu großen Teilen an unserer Einstellung zu allem. Wir haben vormittags ganz in Ruhe zusammen gepackt. Und das, obwohl es dabei jedes Mal unendlich viele Kleinigkeiten zu tun gibt und man irgendwie nicht daran glauben kann, dass man überhaupt noch los kommt.
Gestern war ich ganz Beppo und machte eins nach dem anderen, die Uhr war mir egal. Jetzt packe ich den Kulturbeutel zusammen. Jetzt wickele ich Johnny und streichle ihm dabei über die Fußsohlen weil er dann so lustig kichert. Jetzt schreibe ich eine Dankeskarte an die Mutter meiner Freundin, bei der wir übernachten durften. Jetzt wasche ich Mauses Body aus weil sie uns ihr großes Geschäft so lange verheimlicht hat, dass…naja, eben ein Auswaschen notwendig ist und bitte Flo mir frische Sachen aus der bereits am Fahrrad festgeschnallten Kindertasche zu holen.
Es war erstaunlich; obwohl wir natürlich unsere Zeit brauchten, fühlte sich alles irgendwie flüssig an und leicht. Und Schwups, saßen wir schon auf dem Sattel. Mauses außen am Gepäck befestigte, nasse Sachen wehten im sonnigen Wind.
Ich korrigiere: im sonnigen Gegenwind!
Meine Fresse, kann Wind wehen! Aber auch hier half wieder die richtige Einstellung. Ich hätte mich auf den Wind konzentrieren können und wie heftig er mich bremst. Oder auf meinen schmerzenden Hintern oder auf meine bleierne Müdigkeit wegen des nächtlichen Stillens. Aber gestern gelang es mir, mich stattdessen auf das Träumchen eines Fahrradweges unter meinen Reifen zu konzentrieren; frischester, Babypopo-Asphalt ließ mich dahin gleiten wie eine Eisprinzessin, die nach ihrer Kür noch eben die Blumensträuße und Teddys einsammelt. In fast erotischer Weise gab ich mich der Liebe zu diesem perfekten Untergrund hin. Und es half, sehr sogar! Gut gelaunt und schneller als erwartet erreichten wir unser Tagesziel noch bevor die Kleinen aufwachten.
Erkenntnisse am eigenen Leib erfahren
Dass es auf die Einstellung ankommt, ist wohl der Standard-Grundsatz jedes Mental-Trainings und lässt sich auch variantenreich in jedem Küchenkalender nachlesen. Aber ich bin jedes Mal wieder beeindruckt von der Kraft einer Weisheit, wenn man sie in vollster Intensität am eigenen Leibe erfährt. Obwohl in der Theorie bekannt, trifft einen die Erkenntnis dann ganz neu und man denkt kurz, man wäre der erste Mensch auf der Welt, der das jetzt begriffen hat. Und nicht nur begriffen; es setzt sich gewissermaßen nachhaltig in deiner DNA fest. Ich glaube, das sind die Momente, in denen man sich wirklich verändert und wächst weil man sich heraus aus der Komfort-Zone gewagt hat.
Jedenfalls rufen wir uns jetzt immer mit zum Himmel gestreckter Faust „BEPPO!“ zu wenn es gerade grenzwertig anstrengend ist. Beppo ist unser Held.