Ich habe gerade einen schweren Ohrensessel von meinem Zimmer in das meiner Kinder transportiert. Wie Obelix mit seinem Hinkelstein habe ich mich ächzend mit ihm auf dem Rücken durch die Türrahmen gezwängt.
Es war ein riesiger Aufwand und heute Nachmittag werde ich das ganze ein zweites Mal tun müssen. Mein Kopf tut jetzt ein bisschen weh aber lasst mich erklären, warum es trotzdem die Mühe wert war.
Ich beginne zunehmend nicht nur zu akzeptieren, dass ich in gewisser Hinsicht etwas speziell bin, nein, ich beginne jetzt auch damit, danach zu handeln. Und das bedeutet, dass ich immer besser erkenne, was ich brauche und auch weiß, wie ich es mir geben kann. Das klingt so banal aber für mich ist das ungefähr so, als ob ich immer besser darin werde, einen Salto rückwärts aus dem Stand zu machen – jedes Mal bei dem ich nicht auf dem Kopf lande ist ein Grund zum Jubeln!
Being sensible and trying to own it
Und heute morgen erkannte ich, dass ich eine ruhige, friedliche und gemütliche Arbeitsumgebung brauche. Ich erkannte, dass ich mich in meinem Arbeitszimmer mit dem Fenster zu einer viel befahrenen Straße eigentlich immer leicht gestresst fühle und mich schlecht konzentrieren kann. Außerdem befindet es sich auf der Nordseite dieses alten, schlecht isolierten Hauses, weshalb ich dort meistens friere.
Es ist erstaunlich, wie lange ich gebraucht habe, um zu begreifen, dass meine Umgebung einen solchen Einfluss auf mich hat. Und wie lange es dann noch brauchte, es zu akzeptieren, derart „empfindlich“ zu sein. Und wie schwer es dann immer noch ist, tatsächliche Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation für mich positiv anzupassen.
„Stell dich nicht so an“ – die alte Platte
Und jetzt grinse ich über das ganze Gesicht und feiere mich dafür, in diesem wunderschönen, von der Sonne durchfluteten Zimmer in meinem Sessel zu sitzen. In absoluter Stille! Nur die Vögel zwitschern mir zu: Gut gemacht, Moni. Endlich. Es kann so einfach sein. Und doch so schwer. Warum eigentlich?
Ich habe es im Laufe meines Lebens verinnerlicht, dass es keine gute Sache ist, wenn ich launisch, empfindlich, weinerlich oder überfordert bin. Ich habe gelernt, dass es nicht so gut ankommt, wenn ich alleine sein will, etwas absage, nicht sofort auf Nachrichten antworte, nicht fröhlich, unbeschwert und unkompliziert bin. Um niemanden zu enttäuschen, angenommen und geliebt zu sein, lernte ich meine eigenen Bedürfnisse hinten an zu stellen. Bis ich schließlich verlernte, sie überhaupt wahrzunehmen.
Die Wahrheit über Bedürfnisse
Ich wunderte mich dann regelmäßig über meine Migräne Attacken, depressiven Verstimmungen, häufigen Infekte oder unangemessen heftigen emotionalen Ausbrüche bei Kleinigkeiten. Mittlerweile habe ich eine simple aber wichtige Tatsache akzeptiert: Bedürfnisse verschwinden nicht wenn man sie unterdrückt. Aber es brauchte viel Zeit, innere Arbeit und großen Mut für mich, mal ganz ehrlich hinzuschauen. Ich fand nach und nach heraus, was ich brauche, um gesund und glücklich zu sein. Dafür musste ich große Teile meines Selbstbildes hinterfragen, loslassen und andere Facetten hinzufügen.
„Ich bin total normal, bla-bla“
Noch bis vor ein paar Jahren hätte ich mich selbst als robuste, leistungsfähige, ganz normale Person beschrieben. Für alle Probleme hatte ich gute, rationale Erklärungen: die häufigen Infekte kamen von der schiefen Nasenscheidewand. Die Migräne hatte ich genetischer Prädisposition und bestimmten Ernährungs-Triggern zu verdanken. Die Stimmungsschwankungen lagen daran, dass ich halt ein bisschen kaputt bin aufgrund meiner „schweren“ Kindheit und Jugend, bla-bla-bla. Dass hinter alldem etwas Übergeordnetes, in meiner Persönlichkeit Verortetes stecken könnte, kam mir nie in den Sinn.
Heimlicher Gamechanger: Hochsensibilität
Als Erstes stieß ich durch Zufall auf das Konzept der Hochsensibilität oder Hochsensitivität, das Elaine Aaron in den späten Neunzigern etablierte. Aaron geht davon aus, dass ca. 15-20 % der Menschheit mehr oder weniger hochsensibel sind und auch schon immer waren.
Der Theorie zufolge hat diese Gruppe gemeinsam, dass sie nicht nur mehr Reize aus ihrer Umgebung über die Sinne aufnimmt, sondern diese auch anders – nämlich viel intensiver – im Gehirn verarbeitet. Es gibt eine Reihe an Eigenschaften, die damit einhergehen und die in den diversen Selbsttests zur Hochsensibilität abgefragt werden. Hochsensible sind z.B. oft besonders licht-, geräusch-, geruchsempfindlich und brauchen mehr Zeit, um sich von Reizüberflutungen zu erholen. Dieses Thema allein füllt ganze Bücher, von denen es mittlerweile eine Menge gibt.
Allergie gegen Labels und Schubladen
Für mich war das mein erstes, großes Aha-Erlebnis. Ich wusste sofort, dass ich den sogenannten Hochsensiblen angehöre auch wenn es mir nicht gefiel. Es widerstrebte mir, mich der unbeliebten Außenseitergruppe auf dem Schulhof anschließen, die sich aber aus ihrem Minderwertigkeitskomplex heraus für etwas Besonderes hält. Ich behielt die Erkenntnis also vorerst für mich. Dennoch stellte sich allmählich eine andere Sicht auf meine „Probleme“ ein. Vielleicht war ich nicht bloß kaputt oder vom Pech verfolgt, sondern einfach sehr sensibel – so wie viele andere auch?
Dann ließ ich das Thema liegen. Vielleicht auch weil ich eine Allergie gegen Schubladen habe. Ich hatte keine Lust mir ein Label auf die Stirn zu kleben und mich von da an durch die einseitige Brille der Hochsensibilität betrachten und beurteilen zu lassen. Ich war vielleicht auch hochsensibel aber das sollte nicht die einzige Eigenschaft sein, die mich ausmacht.
„Quiet“ von Susan Cain – keine Schubladen nötig
Bis ich auf das Buch „Quiet“ von Susan Cain stieß. Das Buch beleuchtet unglaublich differenziert und detailliert alle möglichen Konzepte, die im weitesten Sinne von einer Unterscheidung von Persönlichkeiten im Bereich der Reizverarbeitung ausgehen. Bis heute verbeuge ich mich vor der Leistung dieser Frau, die es geschafft hat den dicken, roten Faden zu spinnen, der für mich alles verbindet.
Sie erhebt sich über vereinfachte, immer unvollständige Schubladen. Stattdessen plädiert sie dafür, dass es diese bestimmten introvertierten, leisen, sensiblen Eigenschaften sind, die geschätzt, geschützt und kultiviert werden sollten. Und alle Menschen würden davon profitieren – ob hochsensibel oder nicht. Auch betont sie stets das Konzept eines Kontinuums zwischen den extremen Ausprägungen, auf dem jeder Mensch sich individuell einordnen kann. Niemand muss sich irgendwie dualistisch für eine Gruppe entscheiden.
Mein Problem mit allen Persönlichkeitstests
Natürlich weiß ich, wie verlockend es sein kann, endlich eine gemütliche Schublade zu finden, in der man sich so richtig schön einrichten kann. Auch ich habe schon als Jugendliche gerne die Psycho-Tests in der Bravo Girl gemacht, später alle möglichen Big Five- Fragebögen ausgefüllt, den Meyer-Briggs-Typenindikator ausprobiert und Tests zum Enneagram gemacht. Einige davon sind durchaus sehr detailliert und schafften es, dass ich mich teilweise sehr darin wiederfand. Aber nie war ich so richtig zufrieden mit meinem jeweiligen Ergebnis. Eine einzige Abweichung in der jeweiligen Typ-Beschreibung reichte aus, um mich die Tests entweder mehrmals wiederholen zu lassen oder einfach nur frustriert zu sein. Es sei anzumerken, dass nur die wenigsten Tests wirklich als wissenschaftlich fundiert und geprüft gelten. Es ist also auch aus diesem Grund eher davon abzuraten, das jeweilige Ergebnis zu ernst zu nehmen.
Fazit: Kategorien sind Annäherungen
Ich komme zu dem Schluss, dass es für mich teilweise sehr hilfreich und Augen öffnend war, diese Tests zu machen und die erwähnten Bücher zu lesen. Sie können dabei unterstützen, sich selbst kennenzulernen und zu akzeptieren. Auch ist eine Auseinandersetzung mit ihnen wertvoll, weil man meist eine Menge Tipps erhält, wie man als ein bestimmter Typ sein Leben angenehmer und gesünder gestalten kann. Ich lasse mich von ihnen inspirieren – hopse fröhlich von Schublade zu Schublade und probiere alles an und aus, was mich anspricht.
Allerdings sehe ich diese Kategorien vor allem an als das, was sie sind: abstrakte Konzepte, die immer nur eine Annäherung sein können an das im seinem Wesen Unfassbare und sich stetig Wandelnde: die einzigartige Persönlichkeit eines Menschen.