Warum wirkt Schreiben und wie?

Es hört sich dramatisch an aber ich würde sagen, dass mich das Schreiben gerettet hat. Nicht vor dem Tod, nicht vor einer bestimmten drohenden Katastrophe, sondern vor unzähligen, über mein Leben verteilten Anlässen, die das Potential hatten, mich nachhaltig und negativ zu prägen.

Vor ein paar Tagen kam ich in diese ganz bestimmte Stimmung, die mich dazu veranlasste die alten Erinnerungskisten hervorzukramen. Ich mag diese Stimmung. Sie zeugt davon, dass ich mich gerade stabil genug fühle, um mich dem Alten zu stellen, mutig genug, um vergrabene Gefühle empfangen zu können. In diesen Kisten fand ich alle meine Tagebücher. Das erste beginnt im Jahr 1999. Damals war ich dreizehn Jahre alt. Auf der ersten Seite beschreibe ich, dass mich das Lesen der Jugend-Tagebücher meiner Mutter dazu inspiriert hat, nun auch mein Eigenes zu starten. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit großer Mühe aber ebenso großer Faszination die polnischen Zeilen meiner Mutter entzifferte und mir einen Einblick in ihre Innenwelt verschaffte. Damals fühlte ich eine einzigartige Verbundenheit zu ihr, weil wir uns magischer weise auf jugendlicher Augenhöhe begegnen konnten.

Tagebuch schreiben oder Journaling?

Beim Querlesen meiner Tagebücher wurde mir bewusst, dass ich bereits von Anfang an Journaling betrieb. Im englischsprachigen Raum wird klar zwischen einem Tagebuch (diary) und einem Journal unterschieden – das habe ich erst kürzlich gelernt. Bei Tagebüchern geht es vorrangig darum, das Geschehene festzuhalten, zu dokumentieren, was passiert ist. Das Reisetagebuch ist ein gutes Beispiel: Etappen, Umstände, Episoden einer Reise niederschreiben, einfach nur um es zu konservieren und vielleicht später einmal Freude beim Lesen und Erinnern zu empfinden.
Das Journal hingegen beleuchtet immer (auch) die Innenwelt der schreibenden Person. Hier gleicht das Schreiben einer umfassenden Bestandsaufnahme von dem, was gerade los ist. Im Kopf, in unserer Gefühlswelt und im Außen. Auch Probleme, Konflikte, Wünsche, Ziele finden Platz in einem Journal – es kann vielfältige Zwecke erfüllen.
Ich habe schon 1999 über meine Gefühle geschrieben. Besonders die Konflikte mit meiner damals besten Freundin und die kriselnde Ehe meiner Eltern schienen mich stark zu beschäftigen. Ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, mit niemandem darüber sprechen zu können – das Tagebuch wurde zu meiner heimlichen Freundin, die mir immer zuhört, mich nicht verunsichert oder beschuldigt. Ich vermute, dass ich damals intuitiv meine Art des Copings entdeckt habe.

Schreiben als Coping-Methode

Der Begriff Coping stammt ursprünglich aus der psychologischen Stressforschung und bezeichnet ein individuelles Bewältigungsverhalten angesichts von Ereignissen oder Konflikten, die die Ressourcen einer Person berühren oder übersteigen. Coping beschreibt also jede Form der Auseinandersetzung mit psychisch und physisch als belastend empfundenen Situationen.
Über das Schreiben gelang und gelingt mir diese buchstäbliche Auseinander-Setzung. Mit dem Stift trenne ich meine Gefühle, meine Gedanken und auch meine gegenwärtige Situation von mir selbst ein Stück weit ab. Ich kann mich distanzieren. Dies wiederum hat den Effekt, dass ich klarer sehen kann, mich nicht mehr so ausgeliefert fühle, die Rolle einer Beobachterin einnehme, die auch über die Macht verfügt, zu entscheiden, wie sie mit all dem umgehen möchte. Die Perspektive kann gewechselt oder erweitert werden. Gebannt und zu Buchstaben komprimiert verlieren jedes noch so große Problem, jede noch so überwältigende Emotion einen Teil ihrer Wucht.
Meine Kindheit und meine Jugend waren nicht unbeschwert. Und ehrlich gesagt, habe ich bisher keine Person kennengelernt, die nicht irgendein Paket mit sich trägt. Wie sehr uns dieses jedoch belastet, unser Leben und unsere Gesundheit bestimmt hat viel damit zu tun, wie wir damit umgehen.

Schreiben aus psychologischer Sicht

Es gibt viele Formen des Schreibens, die der eigenen Entfaltung, Heilung oder Fokussierung dienen sollen – biographisches Schreiben, kreatives, assoziatives Schreiben, therapeutisches Schreiben, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch im Rahmen von anderen Methoden und Lehren finden bestimmte Schreibübungen Anwendung. Bekannt ist das Dankbarkeits-Tagebuch, das häufig das Achtsamkeitstraining begleitet. Hier schreibt man jeden Abend auf, wofür man an dem jeweiligen Tag dankbar war. Dies soll dabei helfen, die Aufmerksamkeit auf Positives zu lenken und negative Glaubenssätze zu entkräften.
Ich habe mich gefragt, ob es einen übergeordneten Grund gibt, warum das Schreiben auf so vielfältige Weise helfen kann. Wie es eigentlich wirkt, aus psychologischer Sicht. Dabei bin ich auf zwei mir gut bekannte, etablierte und gut erforschte Theorien gestoßen.
In der Gesundheitspsychologie wird immer wieder auf das Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky zurückgegriffen, um zu erklären, warum bestimmte Menschen sich gesundheitsfördernd verhalten und andere nicht. Nach Antonovsky ist ein wesentlicher Schutzfaktor für die Gesundheit der sogenannte Kohärenzsinn. Dieser meint einfach ein grundlegendes, überdauerndes Vertrauen in sich und das Leben. Ein Mensch mit einem ausgeprägten Kohärenzsinn hat das Gefühl, die Welt zu verstehen und allen Herausforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Dieser Person gelingt es meist, einen Sinn hinter allem zu entdecken und positiv in die Zukunft zu schauen. Dies wiederum hat einen Einfluss darauf, wie aktiv und eigenverantwortlich sie ihr Leben angeht und sich um ihre Gesundheit bemüht.

Wie kann das regelmäßige Schreiben zur Ausbildung des Kohärenzsinns beitragen?

In dem ich aufschreibe, was mich belastet versuche ich meist automatisch, es auch zu verstehen. Noch während des Prozesses mache ich Sinn aus allem. Die Distanz zu meiner eigenen Situation gibt mir Trost und ich bekomme einen klaren Blick für Lösungsansätze. Auch das spätere und wiederholte Lesen meiner Einträge kann zu mehr Optimismus beitragen, weil ich Beweise dafür finde, dass ich aus schwierigen Situationen und Emotionen heraus gefunden habe, dass alles temporär und relativ ist. Ich sehe es so: In dem Moment, wo ich einen Stift in die Hand nehme, nehme ich immer auch ein bisschen mein Leben in die Hand.

Ich schreibe, also gestalte ich.

An diesem Punkt setzt ein weiteres psychologisches Phänomen an: die Selbstwirksamkeit. Im Rahmen seiner sozial-kognitiven Theorie beschreibt Albert Bandura die Erwartung der eigenen Selbstwirksamkeit als eine der wichtigsten Ressourcen, um z.B. Ziele im Leben zu erreichen, diese auch realistisch und angepasst an die eigenen Fähigkeiten zu setzen. Und wie bildet der Mensch diese Fähigkeit aus? Insbesondere die Summe aller tatsächlichen Erfahrungen, wie ich eine Herausforderung oder Aufgabe bewältigt habe, bildet in mir die Überzeugung, dass ich etwas schaffen kann, wenn ich es möchte.
Das klingt vielleicht banal, ist aber die Grundlage für fast alles, das uns im Leben wichtig ist. Allen voran die Erhaltung der eigenen Gesundheit. Kann ich es schaffen, regelmäßig zum Yoga zu gehen und wie? Kann ich es schaffen, das Rauchen aufzugeben und wie? Kann ich es schaffen, weniger Süßigkeiten zu essen und wie? Kann ich mir einen Termin bei dem Arzt meiner Wahl organisieren und wie?
Aber auch im Bereich der eigenen Entfaltung und bei anderen Lebenszielen spielt Selbstwirksamkeit eine entscheidende Rolle. Schaffe ich es die Bewerbung für meinen Traumjob zu erstellen und wie? Schaffe ich es, meine Bekannte endlich um ein Date zu bitten und wie? Ich könnte ewig so weiter machen.

Selbstwirksamkeit bildet sich von Anfang an, ein Leben lang

Bei Selbstwirksamkeit kommen mir sofort die unzähligen Situationen in den Kopf, bei denen ich in meinem Studentinnenjob als Übungsleiterin beim Kinderturnen den Eltern versuchte zu erklären, warum sie ihren Pupsern nicht immer bei allem helfen sollen. Schon die ganz Kleinen profitieren davon, wenn sie erleben, wie sie eine Herausforderung (ein Kasten, auf den es zu klettern gilt) aus eigener Kraft meistern. Als Eltern sollten wir eigentlich nur absichern, ermutigen oder Alternativen vorschlagen, wenn die Aufgabe einfach noch zu schwer ist. Der Glanz in den Augen eines jeden Kindes, dass es mit Ach und Krach irgendwann irgendwo hoch oder herunter geschafft hat, ganz alleine, hat mich jedes Mal tief berührt. Als wäre ich Zeugin davon geworden, wie ein Menschlein sein Selbstvertrauen aufbaut, die Basis für ein gesundes und erfülltes Leben.

Und was hat Selbstwirksamkeit mit Schreiben zu tun?

Es wird jetzt ein bisschen knifflig, weil das Schreiben für viele von uns in der Vergangenheit häufig wenig mit erfüllenden Erfolgserlebnissen zu tun hatte. In der Schule und im Studium werden alle schriftlichen Erzeugnisse streng bewertet und auf Noten reduziert. Schreiben ist bei vielen folglich mit Angst, Zwang und Stress verbunden.
Oft ist es der erste Schritt mit meinen Klient*innen, sich von diesen Assoziationen zu lösen. Schreiben wieder als das zu entdecken, was es ist: ein fantastisches Werkzeug, um sich selbst auszudrücken, kreativ zu sein und zu kommunizieren – mit anderen sowie mit sich selbst.
In dieser Form trägt Schreiben genauso zur Bildung von Selbstwirksamkeit bei, wie ein Bild zu malen, einen Baum zu pflanzen, einen Weg zurück zu legen oder ein aufwendiges Essen zuzubereiten. Schreiben zeigt mir, dass ich etwas er-schaffen kann, aus eigener Kraft. Das Blatt war vorher leer und weiß. Jetzt sind da Worte, Sätze, Geschichten, Pläne, Gedanken, Ideen. Ein sichtbares und unendlich weiter verwendbares Ergebnis meiner Schaffenskraft. Im Vergleich zum Fünf-Gänge Menü bietet das Schreiben den Vorteil, dass es so gut wie keine Vorbereitung oder Organisation erfordert. Jede und jeder kann sofort loslegen.
Ich empfinde es so, dass das Schriftliche einen magischen dritten Raum darstellt, zwischen unserem Inneren und der Außenwelt. Über diesen Kanal ist es viel einfacher, Wünsche und Ziele tatsächlich umzusetzen. Gedanken, Gefühle und Intentionen festhalten zu wollen, solange sie nur im Kopf sind, gleicht dem Versuch, nach Wasser zu greifen. Auf dem Papier hingegen nehmen sie Form an. Jetzt können wir mit ihnen arbeiten. Es wird wahrscheinlicher, dass wir die Dinge wirklich angehen und verändern. Wir begleiten und motivieren uns selbst über das Papier.

Das können nur wir!

Herunterbrechen lässt sich wohl alles auf das Schlüsselwort Selbstreflexion. Eine einzigartige Fähigkeit, über die nur der Mensch auf diesem Planeten verfügt. Wir sind uns unseres eigenen Daseins bewusst und können von uns selbst gedanklich zurücktreten, uns unserem Selbst gegenüber stellen, es betrachten, mit ihm eine Beziehung eingehen und mit ihm in einen Dialog treten.
Diese Fähigkeit hat ein großes Potential, dass aber oft ungenutzt bleibt. Wir haben keine Zeit, keinen Raum, keinen Kopf dafür oder gewisse Widerstände hindern uns daran, wirklich in echten Kontakt mit uns zu treten. Es braucht Offenheit, Liebe und manchmal auch Mut. Häufig beginnen wir erst damit, wenn die Probleme so groß geworden sind, dass wir verzweifeln und professionelle Hilfe aufsuchen.
Ich bin mir mittlerweile sicher, dass meine zur Gewohnheit gewordene, schriftliche Selbstreflexion mich über all die Jahre über Wasser gehalten hat. Sie hat mir nicht nur dabei geholfen, Schmerzhaftes zu verarbeiten und Kompliziertes zu verstehen, sondern auch Orientierung zu finden, wenn ich mich mal wieder verloren fühlte, Ideen zu entwickeln, Pläne zu schmieden und schließlich umzusetzen.
Ich war mir selbst meine zuverlässigste Stütze.